Wenn wir uns das Wissen von Gesicht und Hand aneignen, lernen wir auch, unser eigenes Gesicht und unsere Hände zu interpretieren. Charaktereigenschaften, Stärken, Schwächen, Grundbedürfnisse, die erfüllt sein sollten, um uns wohl zu fühlen, Talente und so weiter. Man nennt das Psychophysiognomik (Gesichtsdeutung).
Quellen zur Physiognomik sind bei bekannten griechischen Philosophen der Antike, im Mittelalter und der Renaissance, sowie im 18. und 19. Jahrhundert zu finden. Unter dem Stichwort «Menschenkenntnis» erlebte die Physiognomik – oder besser: erlebten die Physiognomiken – in den 1920er und 1930er Jahren große Beliebtheit.
Besonders mit dem Aufkommen der Fotografie und den bewegten Bildern der pantomimischen Stummfilmzeit vermutete man einerseits die Möglichkeit einer universellen, wortlosen und künstlerischen Ausdrucksmöglichkeit. Andererseits glaubte man, dass dies eine einfache Möglichkeit sein könnte, sich in der großen und komplizierten Stadt zurechtzufinden, wo herkömmliche soziale Regeln nicht immer funktionieren. Einige Leute dachten jedoch auch aus rassistischen Gründen, dass dies eine gute Sache sei.
Auch heute stellen viele Menschen Beziehungen zwischen physiologischen Merkmalen und Charakterzügen her.
Ein Beispiel ist die von dem deutschen Maler Carl Huter entwickelte Lehre der Psycho-Physiognomik, die Charaktereigenschaften auf Grund der Schädelform und des Gesichts deutet, mit der teilweise auch in der Personalberatung gearbeitet wird. Dabei kommen vor allem moderne Analysemethoden, wie die computergesteuerte Gesichtserkennung, zum Einsatz.
Ich persönlich besitze eine kleine Nase. Kleinnasige Menschen haben in ihrem Leben unter anderem die Aufgabe, Geduld zu lernen. Gar keine so einfache Sache. Schon als Kind hörte ich von meiner Mutter: «Rachel, sei nicht so ungeduldig!»
Dieser Hinweis provozierte mich. Erst recht stampfte ich mit dem Fuß auf dem Boden und rief: «Nein, ich will dieses Joghurt jetzt nicht essen!»
Weshalb reagierte ich so? Im unteren Teil meines Kinns befindet sich in der Mitte ein Grübchen. Das bedeutet, Kritik ist etwas, was man nicht erträgt. Es kann sein, dass man sehr heftig darauf reagiert. Sie dürfen von einem Kind oder jüngeren Erwachsenen mit einem solchen Grübchen nicht erwarten, dass er seine Impulsivität im Griff hat. Seine Reaktion bricht impulsiv aus ihm heraus. Es benötigt viele Jahre, spontane Überreaktionen in den Griff zu bekommen. Ich werde jetzt 68 Jahre alt, und es gelingt mir viel besser als früher.
Mit 35 Jahren eröffnete ich meine Praxis für Lebensberatung, Gesichts- und Handlesen und arbeitete in den ersten Jahren auf vielen Messen im In- und Ausland, pro Jahr über 30 Messen.
Ab und zu lief auf einer Messe sehr wenig. Wir Aussteller hatten kaum etwas zu tun. Ich beobachtete, dass manche Aussteller ihren Stand verließen und mit anderen Teilnehmern zu reden anfingen. Ausgerechnet in solchen Momenten betrachteten Besucher das Angebot an dem verlassenen Stand.
Da jedoch keine Ansprechperson anwesend war, spazierte der Besucher weiter. Da realisierte ich, dass es zu meiner Aufgabe gehört, am Stand präsent zu sein, damit ich dem Besucher Auskünfte geben konnte. Also blieb ich stehen und übte mich in Geduld. Was sich schnell einmal auszahlte, denn am Ende waren meine Auftragsbücher voll, und während den Messen hatte und habe ich seither ebenfalls viel zu tun.
Nach einigen Monaten stellte ich fest, dass mein Pallium länger geworden war. Der Teil, wo die Nase aufhört bis zum oberen Lippenrand, wird so genannt. Dieses Größerwerden bedeutet unter anderem, dass ich Geduld und Ehrgeiz entwickelt haben muss.
Wir können also bei unserem Gesicht den bisherigen Entwicklungsweg ablesen; es ist quasi unser Lebens-Tagebuch. Wenn Sie Fotos von sich anschauen, die Sie als Baby zeigen, und dann Bilder von sich als Kind, Jugendlichen, Erwachsenen bis heute betrachten, so können Sie auf Veränderungen in Ihrem Gesicht achten und wissen dann auch, was Sie zu dem jeweiligen Zeitpunkt erlebt haben.
So weiß ich heute, dass das Erlernen von Gesichts- und Handinterpretationen das Leben sehr erleichtern kann, und ich bin dankbar dafür, dieses Wissen weitergeben zu dürfen.