Es gibt Momente, in denen ich vor dem Spiegel stehe und meine Haare betrachte. Sie stehen in alle Richtungen, trotzen jeder Frisur und lassen sich scheinbar nicht frisieren. Ein Blick in den Spiegel wird zu einem Dialog mit mir selbst: Was erzählen mir meine Haare in diesem Augenblick?

Stehen sie nach allen Seiten ab, dann könnte es sein, dass auch ich mich in einem Zustand der Unruhe befinde. Möglicherweise bin ich an vielen Orten gleichzeitig, ohne einen klaren Überblick zu haben. Oder vielleicht bin ich an einem Punkt angelangt, an dem mir alles über den Kopf wächst, und meine Position im Leben nicht mehr erkenne.

In diesen Momenten zeigen mir meine Haare meinen inneren Zustand. Sie sind der Spiegel meiner Gedanken und Gefühle. Die Unfähigkeit sie zu frisieren, könnte darauf hindeuten, dass ich mich nicht in eine vorgegebene Form pressen lassen möchte. Vielleicht stehe ich gerade nicht an einem Ort der mich erfüllt. Mein inneres Wesen wehrt sich dagegen in eine festgelegte Struktur gezwängt zu werden.

Doch anstatt in Verzweiflung zu verfallen, erkenne ich diese Momente als Einladung zur Selbstreflexion. Ein bewusstes Durchatmen führt zu der Erkenntnis, dass es nicht nur um die Frisur geht, sondern um das Verstehen meiner eigenen Verfassung. Meine Haare sind der Spiegel meiner Seele. Sie geben mir die Möglichkeit meine aktuellen Gedanken und Gefühle zu erkennen und anzunehmen.

Seit etwa 40 Jahren trage ich mein gelocktes Haar lang. Doch vor ungefähr zwei Jahren durchlief ich einen tiefgreifenden Wandel. Während einer tiefen Meditation kam der Impuls, meine Haare radikal kurz zu schneiden. Meine Tochter hatte zum Glück den Mut und die Zeit, mir die Haare abzuschneiden.

Dieser Moment des Haarschnittes war nicht nur äusserlich transformierend, sondern führte zu einer inneren Befreiung. Der kurze Haarschnitt veränderte nicht nur meine äussere Erscheinung, sondern auch meine innere Wahrnehmung von mir selbst.

Die ersten Wochen waren herausfordernd, da die Menschen mich nicht mehr erkannten und meine Haare zum zentralen Thema jeder Begegnung wurden.Ohne meine schützende Haarmähne fühlte ich mich verletzlich und sichtbar. Doch mit jedem Zentimeter, den meine Haare wuchsen, wuchs auch meine innere Stärke. Der langsame Wachstumsprozess ermöglichte es mir, die inneren Prozesse bewusst zu erleben und zu integrieren.

Jeder Haarschnitt, jede Veränderung in der Frisur, ist nicht nur ein äusserlicher Akt, sondern bewirkt auch eine innere Entwicklung. Selbst das Schneiden der Spitzen schafft eine klare Linie, eine Grenze, die mir hilft, mich abzugrenzen und klar zu sein.

Mit einem Stufenschnitt, verschiedene Haarlängen, habe ich die Möglichkeit meine innere Vielfalt im Aussen auszudrücken. Die Lebendigkeit in meinen Haaren spiegelt sich in meiner Persönlichkeit wider und inspiriert mich, mein Leben in verschiedene Richtungen zu lenken.

Manchmal jedoch stocke ich, finde keinen klaren Weg. In solchen Momenten werden bewusste Handbewegungen zu meinem Heilmittel. Eine Kopfmassage entspannt nicht nur meinen Kopf, sondern schafft Raum für klare Gedanken. Das legen einer Haarsträhne hinter mein Ohr, schärft meine Aufmerksamkeit. Das bewusste durchfahren meiner Hände durch meine Haare knüpft eine innere Verbindung zu mir selbst. Jede Handbewegung mit meinem Haar wird zu einem bewussten Akt der Selbstfürsorge, die mir Kraft schenkt.

Haare sind nicht nur ein äusserliches Merkmal, sondern eine Möglichkeit, die eigene Vielfalt und Einzigartigkeit auszudrücken. Sie sind wie ein lebendiges Kunstwerk, das sich ständig verändert und wächst.

Meine eigene Reise mit meinen Haaren hat mir gezeigt, dass sie nicht nur eine äussere Hülle sind, sondern ein Spiegel meiner inneren Welt. Ich trage meine Haare heute nicht nur mit äusserer Verbundenheit, sondern auch mit tiefer Dankbarkeit für die Erkenntnisse, die sie mir über mich selbst geschenkt haben. Jeder Haarschnitt verändert etwas in mir, wirkt in mir und wird im Aussen sichtbar. Haare sind nicht nur Schmuck, sondern ein Ausdruck meiner inneren Schönheit, die leuchtend und sichtbar nach aussen strahlt.

In Dankbarkeit Silvia Jenni