Vom Körpergewicht zur Selbstliebe
GEDANKEN von Andrea Heurteur
Jede und jeder von uns denkt bei ‚Körper‘ an etwas anderes. Ich denke an Zahlen: die Zahl auf der Waage, den Body-Mass-Index, Kalorien und an eine gewisse Anzahl von Schritten. Es ist verrückt, innerhalb einer Generation hat sich unser Verhältnis zum eigenen Körper stark verändert. Meine Oma hat garantiert noch nicht an Zahlen gedacht.
Meine Oma wurde 1905 geboren und war 1,58 m groß oder klein. Sie wog die meiste Zeit ihres Lebens so um die 80 kg. Als sie vier Jahre vor ihrem Tod nur noch 70 kg wog, machte sie sich Sorgen und machte Witze: „Wenn ich weiterhin so abnehme, werde ich richtig gut in die letzte Kiste passen und darin noch tanzen können!“
Meine Mutter wurde 1942 geboren und war die ersten 35 Jahre ihres Lebens richtig dürr. Die ganze Familie atmete regelrecht auf, wenn sie uns mitteilte, dass sie es geschafft hatte, wieder 45 kg zu wiegen. Sie ist 1,62 m groß und hat sich die meiste Zeit ihres Lebens von Brötchen mit verschiedenen Inhalten ernährt. Im Geschäft ging das halt am einfachsten. Und sie hat geraucht – ihr ganzes Berufsleben lang. Als sie aufhörte zu rauchen, zu arbeiten und die Brötchen zu essen, nahm sie zu. Mit 60 Jahren. Die Schlauen unter euch merken nun, dass sie sich wohl auch weniger bewegt hat. Ja, ihr habt recht. Aber sie war nach der Pensionierung erstmals auch für mich und viele andere zu genießen. Sie war ruhiger, zufriedener und glücklicher. Endlich. Nun ist sie 80 Jahre alt und ähnelt rein körperlich ihrer Mutter, meiner Oma, sehr.
Ich wurde 1961 geboren und im Pass steht, dass ich 167 cm groß bin. Irgendwann als junge Frau wog ich mal 54 kg. Das dürfte mein dünnster Zustand auf dem Planeten als Erwachsene gewesen sein. Es gab auch zwei Schwangerschaften in meinem Leben, aber am meisten Fülle erreichte ich mit 16 Jahren. Ich war nur unglücklich, und ich hatte aufgehört Judo zu trainieren. Damals wog ich 85 kg. Ich kann mich noch daran erinnern, dass ich keuchte, wenn ich in die Wohnung im 2. Stock musste.
Es hat mich aber nicht wirklich gestört. Einige waren dicker als ich, und manche waren dünner als ich, ABER unbeweglicher. Ich habe mit meinen 85 kg immerhin noch zwei Schirennen gewonnen. Masse macht auch schnell. Es gibt auch so etwas wie ein Sommer- und Wintergewicht oder Phasen der Lethargie oder Phasen mit mehr Bewegungswillen. Ich habe keine Waage mehr und versuche schon länger, mich meinem Körper ohne Zahlen zu nähern. Was gar nicht so leicht ist. Beweglichkeit und Gesundheit sind im Moment die Zustände, die mich an meinem Körper interessieren.
Meine Freundin, schlank, sitzt mit mir im Café und sagt zum Thema ‚Körper‘: „Meinen Kontostand teile ich dir ja noch mit, aber mein Gewicht erfährst du nicht!“ Das sitzt. Das Tabu ‚Körper‘ ist größer, als ich gemeint hatte. Freundinnen teilen doch alles miteinander!? Sogar Sexgeheimnisse.
Brauchen wir ein Coming-out? Aber was für eines? Das Gewicht als Zahl ist es ja nicht! Ein Coming-out der Entstressung vielleicht? Frauen, die öffentlich sagen, dass ihnen ihr Gewicht egal ist.
Liebe Leserin, lieber Leser, du merkst, dass mir als Frau zum Thema ‚Körper‘ zuallererst unser Gewicht einfällt. Aber nun möchte ich doch noch ein wenig mehr über dieses Fleischklöpschen schreiben, über das Einige sagen, es sei der Tempel, in dem unsere Seele wohnt.
Ich erinnere mich an meine Kindheit, und es hat doch wirklich einige Unfälle gebraucht, bis ich diesen Körper wirklich bewohnen konnte. Ich habe mich verletzt, immer wieder, weil ich mir noch nicht klar war, wie groß dieser Körper ist und was er aushält und was nicht. In der Pubertät dann der Rausch der Geschwindigkeit, das Glück kam ganz rasch, wenn ich etwas wagte und es gelang: rennen, klettern, alles ohne Helm, Wildbäche durchschwimmen. Bei mir stand Schifahren ganz oben (sogar stehend außerhalb der Bindung oder mit verbundenen Augen), Motorrad fahren oder auf der Schaukel abspringen. Es hat so unsagbar Spaß gemacht, und meistens ist es auch gut gegangen.
Mit der ersten Liebe kamen die ersten Pickel, und es begann der Kampf um die Kilos. Die Kleider sahen bei den anderen immer besser aus. Lieber Dr. Sommer, wie geht das mit dem Sex und lieber Dr. Sommer „Bin ich normal?“. Endlich die 80er Jahre, und man konnte auch als Frau oben ohne rumlaufen. In Südfrankreich zum Beispiel, wo die Eltern und Verwandten es nicht erfuhren.
Es war eine Freude, so viele nackte Menschen, die man beobachten durfte. Dann haben wir uns wieder unsere Kleider übergezogen und sind gen Süden bis Portugal per Interrail. Als ich im Krankenhaus gearbeitet habe, wurde mein körperliches Weltbild massiv erschüttert. Ich sah junge, schlanke Menschen, die doch ganz rasch von einem aggressiven Krebs befallen wurden, und ich sah übergewichtige, bewegungsarme Menschen, die sich rasch wieder erholten, von Krankheiten.
Ist unser Körper ein autonomes Wesen oder folgt er doch stets dem Geist und der Seele oder ist es vielleicht umgekehrt? Vermutlich stimmt beides. Extremsportler sagen, dass sie dem Körper Extremes abverlangen können. Und indische Yogis verlassen ihren Körper gleich ganz. Den Körper zu beherrschen klingt für mich nicht sehr attraktiv. Aber wer weiß, was in Extremsituationen alles zusammen spielen kann. Jenseits unserer Vorstellungen.
Langsam wurde es bei mir besser mit dem eigenen Körper. Er wurde eingecremt und auch lieb gewonnen. Zuerst wohl von mir selber. Er wurde verteidigt und beschützt vor fremdem Zugang und gelobt für die Strapazen der Schwangerschaften und dem folgenden Schlafmangel über Jahre.
Es wurde irgendwie sanfter, auch mittels Yoga, bewusster Atmung und Meditation. Die Haut, so scheint mir, zeigt mir am meisten, das Alter. Die Elastizität ist zurückgegangen. Hautpigmente verändern sich. Es wird aber auch schöner im Fleischklöpschen zu wohnen. Friedlicher und das Beobachten wird spannender. Es tut sich irgendwie mehr als früher. Wenn schon die Seele im Klöpschen wohnt, so ist sie eine engere Verbindung eingegangen. Körper, Geist und Seele verschmelzen mehr. Haben einen Friedenspakt geschlossen.
Vergessen ist das Kalorienzählen und vergessen sind Diäten und Ernährungsberatungen. Die Versprechen der Modezeitschriften haben sich als die Falschen erwiesen. Ich trage enge und weite T-Shirts, ganz nach Lust und Laune. Ich habe meinen ganz persönlichen Positivity-Body-Account eröffnet. Demnächst werde ich eine App entwickeln. Willst du sie herunterladen? Jetzt? Was kann die Welt mehr gebrauchen? Frieden vielleicht, und der fängt beim eigenen Körper an.
Andrea Heurteur, schreibt gerne und macht sich gerne Gedanken.
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